Analyse: Logistiker ohne Gehirn – Blob schlägt KI
Er fristet sein unscheinbares Dasein, indem er neue Ausläufer in Richtung frischer Nahrung voranschiebt, während er sich von bereits erschöpften Resten organischen Materials zurückzieht: der Schleimpilz Physarum polycephalum. Fremdartiger als dieser Blob könnte auch ein Alien auf einem Jupitermond kaum aussehen.

Unermüdlich sorgt er dafür, dass die Erde nicht in organischen Abfällen erstickt. Und geht dabei ziemlich raffiniert vor, obwohl er weder über ein Gehirn noch über Nervenzellen verfügt.
Davon kann sich jeder selbst überzeugen, der ihm ein paar Haferlocken als Nahrung anbietet, die er auf die Tokioter U-Bahn-Stationen verteilt, natürlich nicht in echt, sondern auf einem maßstabsgetreuen Stadtplan.
Sobald unser Miniatur-Logistiker die Haferflocken bemerkt, bildet er Ausläufer, um sie als Nahrungsquellen zu erschließen. Dabei entwickelt er allmählich ein Netzwerk, das verblüffend dem Tokioter Streckennetz ähnelt.
Wenn man die Haferflocken mehr oder weniger stark aufhäuft je nach der Passagierfrequenz einer Station, spiegelt die Dicke der Ausläufer sogar die Durchflussrate der Bahnstrecken wider.
Je genauer Wissenschaftler hinschauen, um so mehr Überraschungen hält Physarum polycephalum für sie bereit. So kann er z.B. mühelos den kürzesten Weg durch ein Labyrinth finden.
Physarum polycephalum ist also ein ausgefuchster Logistiker. Mehr noch: Dieser Einzeller schlägt unsere besten KI-Programme um viele Größenordnungen – nämlich in Punkto Nachhaltigkeit:
- Er kommt ohne aufwändige Infrastrukturen aus, also ohne Stromnetz, Datenleitungen, Klimaanlagen, usw.
- Er verbraucht fast keine Energie. Und wenn, stammt die ja aus organischen Abfällen.
- Er ist vollständig biologisch abbaubar!
Wen Physarum polycephalum nun für die wunderbare Welt der Pilze entflammt hat, den muss ich als gelernter Diplom-Biologe leider enttäuschen: “Schleimpilze” sind gar keine Pilze, sondern gehören zu den Myxogastria-Amöben, von denen es rund 900 Arten gibt, vorwiegend in den Wäldern der gemäßigten Breiten. Diese winzigen Amöben können in bestimmten Entwicklungsphasen zu Syncytien verschmelzen, sodass man sie auch ohne Lupe sehen kann. Zur Vermehrung bilden sie Fruchtkörper (im Bild oben die gewölbte Zone rechts). Während die Fruchtkörper vieler echter Pilze auf dem menschlichen Speiseplan stehen, werden die Myxogastria nicht verzehrt – abgesehen von der Gelben Lohblüte, die man in Veracruz gegrillt als caca de luna genießt.
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